Blick auf den Wecker. Es ist zwanzig vor sieben an Tag 2 nach meinem ersten 100-Kilometer-Lauf. Und höre ich da etwa Regentropfen auf meinem Dachfenster? Naja, mehr als ein Spatziergang ist für heute ohnehin nicht eingeplant. Da ich es aber nicht gewohnt bin, so langsam unterwegs zu sein, dass ich nicht von der Anstrengung warm werde, streife ich vorsichtshalber meine orange Laufweste über und sehe nun einem Profisportler ähnlicher als je währen der Vorbereitungszeit.
Die Treppe komme ich schon wieder ganz gut runter. Wäre ja auch albern, wenn der Muskelkater in den Armen vom ungewohnten Abstützen irgendwann schlimmer würde, als in den Beinen. Gestern, nach einer unruhigen Nacht auf der Isomatte, wo ich mich nur mit Hilfe der Arme im Schlafsack drehen konnte, ging die Tendenz allerdings in diese Richtung...
Als ich den ersten Schritt vor die Tür setze, tropft es noch ganz kräftig, doch habe ich bald die Baumreihe vor dem Haus erreicht, durch deren Blätterdach das Nass noch gar nicht durchgedrungen ist. Antraben? Fehlanzeige. Ich mache eine paar halbherzige Versuche. Schließlich stehe ich an der Ampel, die für meine Begriffe für Fußgänger immer viel zu lange rot zeigt. Als ich endlich hinüber kann, bin ich vollgespritzt mit kaltem Wasser, das die FAhrzeuge von der Straße hochwirbeln.
Noch ein Antrabversuch unter Bäumen - und dieses Mal klappt es. Ich achte peinlich genau darauf, nur auf gerader Strecke Laufversuche zu machen. Zu wenig kann ich meine Füße anheben, um über Wurzeln und andere Unebenheiten nicht zu stolpen. Was für ein Bild ich wohl abgeben mag? Ein Glück, dass es regnet und mir so keine Passanten ihre "aufmunternden" Kommentare entgegen rufen können.
An meinen Beinen bemerke ich etwas Erstaunliches: Die allgemeine Steifheit löst sich langsam in einzelne, gut definierbare schmerzende Zonen auf. Vor allem der rechte hintere Oberschenkel ist noch reichlich "dicht". So hieve ich denn meine Beine an jeder Brücke im Park auf die Brüstung, und das Dehnen tut nach einem kleinen Anfangsschmerz richtig gut. Antraben - Gehen - Dehnen - Gehen - Dehnen - Antraben. Fast 40 Minuten benötige ich für die kleine Trainingsrunde, die in meinem normalen Trainingstempo maximal 11 dauert, aber darauf kommt es heute nicht an.
Ich schwebe und lasse das Rennen und was danach kam durch meine Gedanken passieren: Geplant hatte ich, einen 5:45er-Schnitt zu laufen und mich (derart "ausgeruht", wie ich es geplant hatte), bei trotzdem einsetzender Erschöpfung am Ende gegen 6 Minuten pro Kilometer abfallen zu lassen. Nach meinen bisherigen Erfahrungen mit mir selbst hätte ich eigentlich wissen müssen, dass solches Gemach nicht klappen kann. Also bin ich ruck-zuck in einer Gruppe, die 5:30 läuft, schließe bereits in der 2. Runde zur Ersten auf - und habe in der dritten alles andere als eine Wahl, ihr nicht erstmal davon zu laufen.
Zischen Kilometer 30 und 70 funktioniere ich wie ein Uhrwerk. An jeder Kilometermarke souffliere ich mir die Durchgangszeit an der nächsten, strikt getaktet auf 5:30 Min./Km, was erstaunlich leicht klappt. Meine Marathon-Durchgangszeit ist neue persönliche Bestmarke, ebenso die über 50 Kilometer. An was ich nicht denke, ist Sieg oder gar, jemanden "schlagen" zu wollen. Ich mag diese martialische Sprache nicht, und sie tut mir auch während eines Laufs nicht gut.
Am härtesten male ich mir die Runde von 50 bis 60 Kilometern aus. Man rennt auf keine "Marke" zu, und frisch wie am Anfang ist man auch nicht mehr. Als ich ei 56 Kilometern bin, rede ich mir ein, dass das Rennen nach einer weiteren Runde, bei KM 66, entschieden wird. Das sind immerhin zwei Drittel der Strecke, danach läuft Vieles im Kopf. Auf der siebten Runde fängt "es" dann an weh zu tun. Dennoch werde ich über die 70 hinaus einen guten 6er-Schnitt halten, bis ich mich auch für diese Marke quälen muss.
Am Ende, die Anfeuerungsrufe im Stadion für die Führende, die ich immer noch bin, werden immer frenetischer, ist der geplante Endspurt, den ich mit dem bewussten Herunterschrauben auf den 6er-Schnitt vorbereiten wollte, nicht mehr drin.
Ein Außenstehender würde vielleicht sagen, es waren "nur noch" 7 Kilometer, und weshalb ich mir am Ende noch 3 Minuten abnehmen lasse. Mein Eindruck ist, dass, wer so redet, nicht nachvollziehen kann, was bei einem solchen Rennen zwischen Kopf und Körper vorgeht. Dass man den Körper an die Grenze trimmt, und hofft, dass das bis zum Ende hält. Wenn nicht, und wenn wie bei mir Magenkrämpfe und Schwindel bei jedem Verschärfungsversich hinzukommen, lässt sich einfach nichts mehr machen.
Nun ja, die 9 Stunden möchte ich mir dann aber doch noch holen, und als ich nach 8:36:30 Stunden die Marke "Kilometer 97" passiere, weiß ich, dass es "drin" ist. Der Rest ist Geschichte, Erleichterung und der Vorsatz, meinen Körper und meine Motivation erstmal zu sortieren, bevor ich mich ins nächste Abenteuer stürze.
Den Geburtstagsbrunch bei einer Freundin gestern habe ich in der strahlenden Sonne genossen - auch wenn ich mit Abstand wohl diejenige war, die am wenigsten aß. Auch sonst sind Fressorgien und Alkoholexzesse ausgeblieben. Ich geniße den Zustand des "geschafft" und möchte mich an dieser Stelle an alle wenden, die meine Vorbereitung und meinen Bericht hier so mitfühlend verfolgt haben:
Danke für die Blumen!
Montag, 18. August 2008
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7 Kommentare:
Quelle force, quel combat! Une vraie amazone! Dormir sur un tapis de sol après une telle course! Je t'admire!! Quelle horreur! Repose-toi bien et savure ta victoire!
nur noch" 7 Kilometer ...
Das denke ich mir auch immer bei vergleichbaren Veranstaltungen. Und vermeide dann nach Möglich nachzurechnen, wie lange ich dafür brauche. In Minuten umgerechnet ist das nämlich eine elend lange Plagerei.
Hast Du sehr schön beschrieben und Gratulation zum Bewältigen dieser Distanz, noch dazu ziemlich so, wie Du es Dir vorgestellt hast.
Gute Erholung und viel Spaß bei den neuen Plänen.
Uli
P.S.: Die Bemerkung meiner Vorschreiberin zur Isomatte unterschreibe ich 100%ig!
Hast Du schon mal überlegt, täglich zu laufen? Wenn Du so kurz nach dem 100er schon wieder loslegst... ;)
Gefällt mir! :-)
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Deine "lockere" Strategie genau der Schlüssel zum Erfolg war. Das "Uhrwerk" zwischen 30 und 70 spricht da eine deutliche Sprache.
Interessehalber: Was war bei Kilometer 35? Bei meinen drei "Bambiniultras" (Alb & Remscheid) wurde ich dort jedesmal müde. Wie bei einem "normalen" Marathon :-)
Ein schöner Bericht!
Und sehr interessant für einen Kurzstreckenultra wie mich :-)
Viele Grüße
Lars
Sagenhaft, herzlichen Glückwunsch auch von mir! Die Anlaufversuche heute finde ich lustig und absolut nachvollziehbar, klasse beschrieben.
Ich habe so ungefähr die letzten 6 Berichte hier mit verfolgt und ich muss sagen, ich finde das ziemlich spannend, auch wenn ich es mir kaum vorstellen kann. Aber, dass eine "lächerlich scheinende kurze" Strecke von 7 km auch endlos werden können, das weiß ich.
Erhole Dich gut.
@all:
Danke für eure Glückünsche.
@blacksensei:
"Hast Du schon mal überlegt, täglich zu laufen?"
Ich habe genau gestern auf der Suche nach einer neuen Art des Laufens darüber nachgedacht. Allerdings erschien mir die Forumscommunity nicht sehr einlandend: Paragraphenreiter im Trägershirt 8-) ??
@localzero:
Lockerheit ist relativ, wenn man mit neim 5:20er-Schnitt abdüst...
Zu KM 35: da hatte ich keine Probleme, wahrscheinlich wegen der langen Trainingsstrecken (2xM, 1x44, 1x50, 1x73KM)
@michi:
Ja, du kannst es verstehen, aber Otto-Nichtläufer, der dann blöd hinter einem hergrölt, nicht...
Das war nur so ein Gedanke - ich wollte keine Werbung machen. ;) Täglichlaufen ist schon sehr speziell.
Paragraphenreiter? Nein. *lacht*
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