Ich hatte ja bereit's gestern kurz aus dem laufenden Prozess berichtet. Mittwochs wird künftig bei gutem Wetter immer der Tag sein, in dem ich mit meinem neuen Cyclocross-Rad (so die korrekte Bezeichnung dieses Fahrradtyps) zur Arbeit fahre - immerhin 48 Kilometer pro Strecke.
"Bei gutem Wetter" bedeutet auch, dass gestern das für diesen Herbst letzte Mal war. Zu groß ist meine Angst vor Blitzeis, zu spät könnte ich losfahren und zu früh müsste ich wieder Feierabend machen, um wenigstens den Großteil der Strecke jeweils im Hellen zurückzulegen. Die Einschätzung, dass das Fahren bei Kälte und Dunkelheit nicht ungefährlich ist, bestätigten zu meinem Schock auch die Erfahrungen der gestrigen Rückfahrt.
Mit dem Abflug aus dem Büro hatte ich mir etwas zu viel Zeit gelassen. Zu viel zu tun, dann noch umziehen, Wasserflasche auffüllen, Garmin anwerfen - das übliche Programm. Schon als ich noch durch Hildesheim fuhr, signalisierte mein Körper, was ich schon geahnt hatte: keine Kraft, zu wenig gegessen. Einmal aus der Stadt raus und über Land fahrend dann die nächste angenehme Überraschung: der Wind hat gedreht, kommt aus Nordost und ich muss also von nun an gegen ihn anstrampeln. Nur gut, dass die Strecke nicht auch plötzlich in diese Richtung noch bergauf führt ;-)
Aber Spaß beiseite. Bei 20 Kilometern merke ich das erste Mal, dass mir das Fahren richtig an die Substanz geht. Meine Beine tun weh, der Kopf gibt immer noch Signale, schneller und stärker zu treten oder wenigstens durchzuhalten, doch die Kommandos klingen wie von weit her. Trotzdem genieße ich die Fahrt noch, die Sonne geht gerade unter, am Straßenrand grasen manchmal Pferde oder pelzige Rinde genüsslich auf Hartgras.
Ungefähr bei Kilometer 30 ist es dann dunkel. Mein Rücklicht habe ich schon vor einigen Minuten angemacht, aber die Laufleuchte, die ich auf dem Kopf trage, reicht bei weitem nicht aus, um den Korridor vor mir so zu erhellen, dass ich weiß, wohin es geht. Unterdessen zerrt der Wind an meinem Radtrikot, ich denke mehrfach, dass der Reißverschluss offen ist, aber nein, es pfeift einfach nur so stark durch.
Dann völlige Dunkelheit. Wenn ich Autos in der Ferne sehe, bin ich froh, denn die Lichter geben ein wenig Orientierung in meinem einsamen Strampeln. Der Kopf hat mich mitllerweile verlassen. Er gibt noch Durchhalteparolen, schwebt aber sonst in schöner Unterzuckerungsmanier über den Dingen, so dass ich mir immer wieder diszipliniert ins Gedächtnis rufe, was in welchem Eventualfall (Kreuzung, Auto von hinten, von vorn, enge Kurve...) zu tun ist.
Am Stadtrand von Braunschweig dann Finsternis. Ich fahre keine beleuchtete Straße, sondern Feldwege, die wegen der laufenden Rübekampagne auch noch mit dicken Matschfladen übersät sind, die allgegenwärtigen Schlaglöcher nicht zu vergessen. Es ist verrückt, aber anhalten und den einen Müsliriegel, den ich noch im Rucksack habe, essen, das würde mir nicht einfallen. Gefahr, Qual und die Sehnsucht nach dem Ankommen im Nacken, bringe ich die letzten 8 Kilometer hinter sich. Auf dem letzten Kilometer entscheide ich mich bei der Wahl zwischen flacher Huckestraße und glatten Radweg über einen recht steilen Hügel sogar noch für letzteren - und komme ihn, mentaler Kraft sei Dank, sogar recht behende hinauf.
Angekommen bei meiner Oma dann der erwartete herzliche - und auch sorgenvolle - Empfang. Kennt ihr den Spruch "Ich bin so durstig, ich könnt'n halbes Schwein fressen, so müde bin ich"? Ähnlich ging es mir, und ich entschied mich in einem ersten Schritt für essen, das ich wegen fortdauernden Kältegefühls schließlich zwecks heißer Dusche unterbrach, heißen Tee nicht zu vergessen.
Unter der Dusche dann der Effekt, der sich beim Abstreifen der halb kalten, halb (am Rücken) feucht geschwitzten Kleidung ankündigte: nicht enden wollenden Zittern. Ich kann es gar nicht kontrollieren, und eigentlich - wenn es nicht Omas Kosten und die Umwelt wären - kann ich mich kaum losreißen von diesem herrlichen heißen Nass, das aber nichts weiter sein sollte als der berühmte Tropfen auf den unterkühlten Stein.
Als nächstes ziehe ich mich an, warme Kleidung, aber immer noch zitternd. Ich will essen, mehr Tee trinken, doch weder Tasse noch Besteck kann ich halten, werde immer wieder von Kälteanfällen geschüttelt. Also eingewickelt in die dicke Camela-Decke. Es geht einfach nicht weg, meine Zäne klappern, hörbar und unkontrollierbar.
Irgendwann bringe ich es fertig, noch einen weiteren Pullover - immer noch zitternd - überzuzuziehen. Und dann eine zweite Tasse heißen Tee zu trinken udn irgendwann nach Hause zu fahren, wo es mir endlich bedeutend besser geht, der Alltag kommt wieder und ich bin froh, gehe dann ins Bett.
Eine wahre Zitterpartie war das also. Im Rückblick unverantwortlich, unterzuckert, unterkühlt und ohne wirkliches Gefühl in den durch die Radschuhe eingeschnürten Unterschenkeln im Dunkeln durch die Provinz zu rasen. Eine Erfahrung. Abhaken, Lehren draus ziehen, weiter im Text!