Nach der langen Trainingseinheit heute Morgen gab es heute Nachmittag schon wieder einen Anlass, den Garmin anzuwerfen - und das in gewisser Weise "doppelt passend". Denn ich war auf einer Stadtführung, deren Route sich nun dank GPS (sofern ich es mit Google Earth zum Laufen bekomme) genau nachvollziehen lässt. Und zweitens folgte diese Führung thematisch den Spuren von Carl-Friedrich Gauß, Vater aller Landvermesser und somit auch weitläufiger Vorfahre der satellitenunterstützten Navigation. Organisiert und durchgeführt wurde die Veranstaltung übrigens vom Internationalen Kreis der Gauß-Freunde, der auf die Initiative meines geschätzten Freundes und Kollegen Younouss Wadjinny zurückgeht.
Los ging's also am Vereinshaus des Freundeskreises in der Jakobstraße ein Ort, der sich erst jetzt anschickt, historisch mit dem Namen Gauß verbunden zu werden. Wir verlassen die Enge Straße, der der Neubau einer schwar verkleideten Fassade von Karstadt baulich wahrlich kein Highlight, sondern bedrückende Enge hinzugefügt hat, in Richtung Altstadtmarkt. Die Martinikirche ist das erste Baudenkmal, das auf unserer heutigen Route mit Carl-Friedrich Gauß in Vebindung steht, denn die von ihr betriebene Schule war eine der Vorläuferinnen von Gauß' späterem Gymnasium Martino-Katharineum.
Eine kurze Traverse über das Kopfsteinpflaster des an diesem trüben Sonntag unbelebten Marktplatzes, und schon sind wir in der Breiten Straße, dem heutigen Standort des noch existierenden Gymnasiums, dessen kleine Sporthalle das Renaissance-Portal der einstigen Lateinschule schmückt. Neben Gauß ist mit einer Tafel unter anderem Konrad Koch verewigt. Er schuf 1875 das erste Fußball-Regelwerk für Deutschland und war Pädagoge an dieser Schule.
Weiter geht es, sinnierend über den in diesen Straßenzügen augenscheinlich verlorenen Glanz Braunschweigs in Richtung Casparistraße und Hagenmarkt. In dem (heute ebenfalls unansehlichen) Block zwischen Casparistraße und Bohlweg befand sich Gauß' Grundschule, in der er als Antwort auf eine von Lehrer Büttner gestellte Fleißaufgabe seine berühmte Summenformel (die Summe von 1-100 entspricht der Addition der ersten und letzten Zahl der Reihe mal der Hälfte der Anzahl der Glieder, also 101*50) entdeckte.
Die Katharinenirche wiederum war die zweite Quelle und Namendgeberin des Martino-Katharineums, war allerdings bereits zu Gauß' Zeiten zu klein, um den Schulbetrieb zu beherbergen.
In der Wilhelmstraße (heutigen Braunschweigern besser als Sitz eines der Finanzämter bekannt) wiederum erinnert eine fast lieblose Tafel an einer wenig einladenden Mietskaserne daran, dass hier eines der größten Genies der Neuzeit geboren wurde. Ich muss gestehen: Auch ich bin daran schon jahrelang vorbeigestiefelt, und noch öfter meide ich diesen Straßenabschnitt wegen seiner schon fast undurchdringlichen Hässlichkeit.
Wir gehen weiter in Richtung der viel befahrenen Wendenstraße, biegen dann weg von der Stadt ab und links ein in eine kopfsteingepflasterte Straße, an der die Häuser weniger unscheinbar sind. Unverhoft tauchen demgegenüber der Gaußberg (an dem ich manchmal Steigungsläufe übe) und die davor stehende, in verwitterter Bronze bläulich-grün strahlende Gauß-Statue auf. Nach Gauß' Tod wurde ihm diese von Braunschweiger Bürgern gewidmet. Das Geld hatte man - bei einem gläibigen Menschen, der Gauß laut Younouss im Gegensatz zu Auflärer Lessing war - schnell zusammen.
Und der Gaußberg? Hieß natürlich zu Lebzeiten des Denkers nicht so, diente dem genialen Jungen jedoch bereits früh als Platz, von dem aus er unweit des Wohnhauses der Familie die Sterne beobachten konnte. Im Übrigen ist er - wie alle Erhebungen in Braunschweigs Innenstadt - ein Überrest der im 17./18. Jahrhundert mit dem Aufkommen weit reichender Feuerwaffen geschliffenen Wallanlagen.
Die nächste Station ist ein Ort des nachdenklichen Innewerdens. In der Nähe des Wehres, an dem das Wasser auch heute in der langsam sinkenden Nachmittagssonne des Winters zischend einige Meter hinabstürzt, wäre der junge Carl-Friedrich einmal beim Spielen beinahe ertrunken. Wie gut für all die Technologien, die näher oder ferner auf seine Gedanken zurückgehen, dass dieses Unglück von dem Jungen abgewendet werden konnte.
Zurück am Denkmal lenkt Younouss die Aufmerksamkeit der Interessierten, aber inzwischen doch Frierenden, auf einen seltsamen Stern rechts zu seinen Füßen. Was scheint wie ein mystisches Symbol könnte diese Annahme ferner nicht stehen, denn es handelt sich hierbei um das regelmäßige 17-Eck, dessen mathematische Konstruktionsmöglichkeit Gauß zusammen mit dem Ausschluss anderer Formen (beispielsweise des 9-Ecks) streng methodisch bewiesen hat.
Noch einmal überqueren wir den Gaußberg, dahinter stets im Blick der Architekten-Tower der heutigen Technischen Universität Braunschweig. Deren Altgebäude ist auch die nächste Station auf unserem mathematisch-historischen Weg, denn links neben dem Portikus fällt der Blick auf das Porträt von Richard Dedekind. Dedekind, der wie Gauß Rufe aus der ganzen damals maßgeblichen Wissenschaftswelt in den Wind schlug, um in seiner Heimatstadt zu wirken, war Gauß' letzter Promovend und später Rektor des "Collegium Carolinum", der 1745 gegründeten Vorläuferorganisation der heutigen Universität.
Über den leeren Hauptcampus scheint der Wind an diesem Nachmittag besonders unerbittlich zu pfeifen, so als wolle er uns sagen, dass eine Universität nicht von ihren Gebäuden lebt, ob alt-ehrwürdig oder eher eine Augenweide mit negativem Vorzeichen aus den 70er-Jahren, besser bekannt als Betonklotz. Dementsprechend ist unser Grüppchen froh, den Riesen-leeren Platz vor dem Universitätsgebäude endlich durchmessen zu haben und in eine Wohstraße mit würdevollen, farbig-einladenden Häusern aus der Gründerzeit zu gelangen. Ihr Name: Gaußstraße, da der Wissenschaftspionier auf einem der Grundstücke den Nullpunkt seines Koordinatensystems festlegte. Er Vermaß im Laufe seines Lebens zunächst Braunschweig und dann - als Folge des Thronsturzes der Napoleanischen Kriege, in denen sein Mäzen Carl-Wilhelm 1806 bei Jena und Austerlitz ums Leben kam, das Königreich Hannover.
Dann kommt eine ganze Weile nichts - und gleichzeitig der für die Augen schönste Teil des Rundgangs im Theaterpark, nach dessen Durchquerung wir vor dem gediegenen Wohnhaus Dedekinds stehen. Die Sonne ist unterdessen weit nach Westen gewandert und scheint schräg hinter dem Fluss, über dem die kahlen Zweige von Bäumen schemenhaft aufragen, hellorange zu versinken.
Dann gehen wir längs des Theaters, überqueren den Steintorwall auf Höhe des "Kleinen Hauses" und wechseln von der Shopping-Mall-Ansicht auf die "Schloss-Seite" des Bohlwegs. Es geht Richtung Süden auf die katholische Hauptkirche Sankt Ägidien zu, in deren Schutz sich wieder aufgebaute Fachwerkhäuser kuscheln. Hier steht auch das Denkmal eines weiteren berühmten Sohnes der Stadt: Gotthold Ephrahim Lessing, doch was unser Gauß-Grüppchen in unmittelbarer Nähe des Dichters interessiert, ist das Grundstück, das Herzog Carl-Wilhelm Gauß für eine Sternwarte versprochen hatte, damit dieser nicht nach Sankt Petersburg ginge. Allein, nach dem Tod des Herrschers wurde daraus nichts - Gauß ging nach Göttingen und erhielt dort die ersehnte Ausstattung.
Mittlerweile sind wir richtig durchgefroren. Es ist wohl so, dass es in Deutschland kälter wird, je weiter man nach Osten kommt, und Braunschweig liegt nicht nur "gefühlt" für manche Menschen dort. Der Straßenzug Bruchtorwall, durch den wir gehen, ist wiederum wenig einladend. Linker Hand sieht man im rückwärtig von der sinkenden Sonne angeleuchteten Schatten des Sparkassen-Hochhauses kaum den Alten Bahnhof (heutiger Sitz des Vorstands des Geldinstituts) und dazwischen den wenig ansehnlichen Dom der Volkswagen-Mehrzweckhalle. Dazwischen allerdings liegt ein Ort, der Historiker und Landvermesser gleichermaßen beschäftigt haben dürfte. Die einen waren sich nicht sicher, wo Gauß seine Angebetete zum ersten Mal getroffen habe, die anderen konnten lange nichts anfangen mit einem Vermessungsprotokoll, in dem ein Punkt unvermittelt mnit "Johanna" markiert war. So dauerte es einige Jahre und bedurfte ungewöhnlicher Kooperation zwischen den Disziplinen, um das Rätsel zu lösen.
Unser Grüppchen hat es jetzt auch geschafft. 10 Stationen auf den Spuren des historischen Gauß, eines Universalgenies und großen Sohnes der Stadt Braunschweig sind wir abgegangen. Die wenigsten davon führen dessen Leben wirklich bildlich vor Augen, in der Mehrheit fordert das Nachvollziehen von Gauß' Spuren viel Phantasie. Eine Eigenschaft, die sie mit der geometrischen Form unserer heutigen Route teilt. Ein regelmäßiges Zehneck ist diese jedenfalls nicht. Obwohl, gibt es das überhaupt?
Sonntag, 8. Februar 2009
(K)ein regelmäßiges Siebzehneck
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4 Kommentare:
Danke, fürs mitnehmen auf eine virtuelle Besichtigung :-)
Hat mir gefallen.
Gruß
Christian
Gern geschehen.
Tolle Führung. Danke.
und wegen deines Forerunners.
Hast Du schon SportTracks?
Wenn nicht wird es Zeit. ;-)
Gruß Gerd
@Gerd:
Freut mich, dass es dir (wieder einmal) bei mir auf der Seite gefällt. Sport tracks habe ich und seit gestern Abend auch Google Earth. Allerdings hat die Darstellung der Route sehr viel Punkte, was ich sehr hässlich finde.
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